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Europa – kulturelle Identität – kulturelle Vielfalt

Rede von Jean-Claude Trichet, Präsident der EZBCFS Presidential LectureCenter for Financial StudiesFrankfurt am Main, 16. März 2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

I. Einleitung

ich habe mich sehr über die Einladung des Präsidenten des Center for Financial Studies gefreut. Er schlug vor, dass ich einen Vortrag zum Thema „Europa: Kulturelle Identität – kulturelle Vielfalt“ halte, und diesem Wunsch komme ich aus dreierlei Gründen sehr gerne nach.

Erstens, weil die Einladung von Prof. Otmar Issing kam, einem guten Freund, Weggefährten und ehemaligen Kollegen im Direktorium der Europäischen Zentralbank (EZB). Wir beide arbeiteten gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern des Direktoriums eng zusammen, um die Aufgabe der Bank – die Gewährleistung von Preisstabilität im Einklang mit dem Vertrag von Maastricht – zu erfüllen. Unser Umfeld war damals von außergewöhnlichen Herausforderungen geprägt, was man vom heutigen Umfeld erst recht behaupten kann! Die engen Arbeitsbeziehungen bilden die Grundlage des bemerkenswerten Teamgeists, der innerhalb des Direktoriums herrscht.

Doch nur wenige werden wissen, dass Otmar und ich uns ab und zu auch über Goethes Gedichte, Heines „Lorelei“ sowie Literatur und Poesie im Allgemeinen austauschten. Er muss sich an diese intensiven, wenn auch kurzen Gespräche erinnert haben, als er an mich, einen Zentralbanker, mit der eher ungewöhnlichen Bitte herantrat, über die kulturelle Vielfalt in Europa zu referieren.

Der zweite Grund, warum ich mich über die Einladung gefreut habe, ist, dass die EZB die kulturelle Vielfalt Europas – die sich in ihrer multinationalen Belegschaft aus allen 27 EU-Mitgliedstaaten deutlich widerspiegelt – als ein wertvolles Gut betrachtet. Daher trägt sie aktiv und direkt zur Bewusstseinsbildung in Bezug auf die kulturelle Vielfalt der Europäischen Union als eines der Kernelemente der kulturellen Einheit Europas bei. Auch die von der EZB seit mehreren Jahren veranstalteten „Kulturtage“ dienen der Förderung der kulturellen Vielfalt und erfreuen sich sehr großer Beliebtheit.

Und drittens schließlich habe ich die Einladung gerne angenommen, da ich davon überzeugt bin, dass die Verbindungen zwischen Wirtschaft und Kultur, zwischen Geld und Literatur sowie Poesie, viel enger sind als allgemein angenommen. Hierfür gibt es eine Reihe von Beispielen – lassen Sie mich drei davon anführen.

Erstens sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, dass die ersten schriftlichen Aufzeichnungen vor 6000 Jahren in Sumer (der zwischen Euphrat und Tigris gelegenen Wiege der Zivilisation) erfolgten, als die dortigen Verwalter den Handel mit Alltagsgegenständen bzw. die gehandelten Mengen auf Tontafeln festhielten. Durch das Dokumentieren dieser wirtschaftlichen Aktivitäten schufen diese „Pioniere der Buchhaltung“ die ersten Schriftstücke der Menschheit und bereiteten somit den Weg für die gesamte Weltliteratur.

Zweitens besteht eine Verbindung zwischen Poesie und Geld, die mich seit jeher beeindruckt hat. Gedichte werden – ebenso wie Goldmünzen – geschaffen, um die Zeit zu überdauern und um ihre Integrität zu behalten. Im Fall von Gedichten wird dies durch Rhythmus, Reim und Metaphern erreicht. So gesehen haben sie eines mit Geld gemein: sie dienen ebenfalls, über die Zeit hinweg, als „Wertaufbewahrungsmittel“. Gedichte wie auch Münzen streben Unveränderlichkeit an. Beide sind zum Umlauf bestimmt; die einen von Hand zu Hand, die anderen von Geist zu Geist.

Drittens gehören Kultur und Geld, Gedichte und Münzen den Menschen. Unsere Währung gehört den Bürgern Europas im tieferen Sinne, denn erst ihr Vertrauen in die einheitliche Währung ermöglicht deren erfolgreiche Nutzung als Tauschmittel, Recheneinheit und Wertaufbewahrungsmittel. Unsere Kultur besteht aus einer Fülle an Werken aus Literatur und Kunst, welche die Menschen im Laufe der Zeit vertrauensvoll ausgewählt und bewahrt haben.

Ich würde vorschlagen, dass wir uns bei der Frage nach der kulturellen Identität Europas zunächst auf die Suche nach einem zentralen Konzept, nach einem geistigen Kern begeben; dass wir danach die Vielfalt seiner nationalen Kulturen betrachten und abschließend prüfen, inwieweit die europäische kulturelle Identität Allgemeingültigkeit anstrebt.

II. Die Suche nach dem zentralen Begriff europäischer Kultur

Möchte man die kulturelle Identität Europas näher beleuchten, so kann man, wie gesagt, zunächst nach einem zentralen Begriff suchen, sozusagen der Essenz Europas, die zugleich den Ursprung Europas aufzeigt und sein Wesen kurz beschreibt. In dieser Hinsicht sind zwei Erläuterungen besonders aufschlussreich, nämlich die Sichtweise des Lyrikers und Essayisten Paul Valéry und jene des Philosophen Edmund Husserl.

Valéry schrieb 1924 in seinem Essay „L`Européen“ („Der Europäer“): „Partout où les noms de César, de Gaius, de Trajan et de Virgile, partout où les noms de Moïse et de St Paul, partout où les noms d’Aristote, de Platon et d’Euclide ont eu une signification et une autorité simultanées, Là est l’Europe.“ [1]

Dieses Thema weiter ausführend, schrieb er zum geistigen Charakter Europas: „Il est remarquable que l’homme d’Europe n’est pas défini par la race, ni par la langue, ni par les coutumes mais par les désirs et par l’amplitude de la volonté […].“ [2]

Nun kann man sich in der Tat, wie Valéry, die kulturelle Identität Europas als eine bemerkenswerte Ausdehnung der im Römischen Reich erfolgten Verschmelzung von griechischem Denken, römischem Recht und der Bibel vorstellen, die zur Entstehung von drei monotheistischen Religionen geführt hat.

Man kann bei der Suche nach einem begrifflichen Kern Europas allerdings auch noch weiter gehen, wie dies Husserl in seiner berühmten Wiener Rede „Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie“ vom Mai 1935 tat. Für ihn liegt der Ursprung des europäischen Denkens in Griechenland, wo damals eine Handvoll Menschen einen radikalen Umbruch des gesamten kulturellen Lebens in ihrer eigenen Nation und bei ihren Nachbarn in Gang setzten: „Aber es ist nun auch ersichtlich, dass von hier aus eine Übernationalität völlig neuer Art entspringen konnte. Ich meine natürlich die geistige Gestalt Europas. Es ist nicht mehr ein Nebeneinander verschiedener, nur durch Handel- und Machtkämpfe sich beeinflussender Nationen, sondern: Ein neuer, von Philosophie und ihren Sonderwissenschaften herstammender Geist, freier Kritik und Normierung auf unendliche Aufgaben hin, durchherrscht das Menschentum, schafft neue, unendliche Ideale!“

Laut Husserl ist die Identität Europas also völlig in ihrem griechischen Ursprung, dem Geist der Philosophie, begründet. Demzufolge rührt die „Krise Europas“ also vom offensichtlichen Scheitern des Rationalismus her. Er schließt seine Rede im Jahr 1935 mit den nachfolgenden scharfen und visionären Worten, ohne Totalitarismus, Faschismus oder Nationalsozialismus auch nur zu erwähnen: „Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft […].“

Eine derartige Rückbesinnung auf die Ursprünge der „geistigen Gestalt Europas“ ist notwendig und aufschlussreich. Sie zieht sich für uns – einem roten Faden gleich – durch zwei Jahrtausende kultureller Identität Europas hindurch. Die Tatsache, dass all diese nationalen Kulturen weitgehend – jedoch nicht ausschließlich – auf dieselben Ursprünge zurückgehen, erklärt in weiten Zügen die kulturelle Einheit Europas im Zeitverlauf. Sie können – und müssen – jedoch durch die Analyse der verschiedenen nationalen Kulturen Europas sowie der engen und komplexen Beziehungen zwischen diesen so unterschiedlichen Kulturen ergänzt werden, die die kulturelle Einheit Europas ausmachen.

Die kulturelle Identität Europas, diese Einheit innerhalb der Vielfalt der nationalen Kulturen, kann nicht auf die einfache, nicht näher definierte Expansion eines zentralen kulturellen Ursprungs reduziert werden. Ich stelle mir die kulturelle Identität Europas wie einen sehr eng gewobenen Stoff vor. Dieser Stoff besteht zum einen aus sorgfältig gespannten Kettfäden, die den ausgeprägten nationalen Kulturen mit jeweils eigener Identität und weit zurückliegendem Ursprung entsprechen; und zum anderen aus Schussfäden, die für das länderübergreifende wechselseitige Beeindrucken und Bewundern sowie die gegenseitigen, die Kultur- und Sprachgrenzen überwindenden Einflüsse stehen. In meiner Vorstellung bezieht dieser europäische Stoff aus Literatur, Kunst, Sprache sowie Kultur seine Schönheit, Einheit und Festigkeit gerade aus der Unterschiedlichkeit seiner vielen Fäden.

III. Das bemerkenswerte Netzwerk grenzüberschreitender Bewunderungen und Einflüsse

Um dies zu veranschaulichen, möchte ich einige markante Beispiele anführen, die dieses Bewundern und die „grenzüberschreitenden“ Entdeckungen eindrücklich darlegen.

Da ich vom Center for Financial Studies der Universität Frankfurt eingeladen wurde, liegt es natürlich nahe, ein Zitat Goethes anzuführen. In „Dichtung und Wahrheit“ schrieb der Dichterfürst: „Und so wirkte in unserer Straßburger Sozietät Shakespeare, übersetzt und im Original, stückweise und im Ganzen, […] dergestalt, dass, wie man bibelfeste Männer hat, wir uns nach und nach in Shakespeare festigten. Mehr und mehr bildeten wir die Tugenden und Mängel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in unseren Gesprächen nach […]. Das freudige Bekennen, dass etwas Höheres über mir schwebte, war ansteckend für meine Freunde, die sich alle dieser Sinnesart hingaben.“

Goethe hat Voltaires „Mahomet der Prophet“ und „Tancred“ übersetzt, außerdem „Rameaus Neffe“ von Diderot. Über dieses Werk schrieb er in einem Brief an Schiller, der ihm eine Abschrift von Diderots Text hatte zukommen lassen: „Die Bombe dieses Gesprächs platzt gerade in der Mitte der französischen Literatur.“ Übrigens war „Rameaus Neffe“ dank Goethes Übersetzung in Deutschland erheblich früher bekannt als in Frankreich!

Der Einfluss Goethes auf alle anderen Kulturen ist immens. Die Veröffentlichung des „Werther“ hat Europa geradezu aufgewühlt. Napoleon Bonaparte nahm das Buch mit auf seinen Ägyptenfeldzug, und als er Goethe traf, stellte er ihm hauptsächlich zu diesem Werk Fragen. Später greift Eckermann in seinem Gespräch mit Goethe just diese Konversation zwischen dem Dichterfürsten und Napoleon auf: „‚Napoleon‘, sagte ich, ‚bezeichnet gegen Sie im Werther eine Stelle, die ihm, einer scharfen Prüfung gegenüber nicht Stich zu halten scheine, was Sie ihm auch zugeben. Ich möchte sehr gerne wissen, welche Stelle er gemeint hat.‘ ‚Raten Sie!‘ sagte Goethe mit einem geheimnisvollen Lächeln.“ [3]

Und nachdem Eckermann auf die Passage angespielt hatte, in der Lotte Werther die Pistolen schickt, führt er folgende Antwort Goethes an: „Ihre Bemerkung, ist freilich nicht schlecht. Ob aber Napoleon dieselbe Stelle gemeint hat oder eine andere, halte ich für gut nicht zu verraten.“

Von den engen literarischen Kontakten innerhalb Europas, die in Sprach- und Landesgrenzen überwindenden Bewunderungen zum Ausdruck kommen, zeugt für mich auch der erste Satz der Rede Chateaubriands vor der Académie Française – einer Rede, die im Übrigen von Napoleon Bonaparte zensiert wurde: „Als Milton ‚Das verlorene Paradies‘ veröffentlichte, hat sich in den drei Königreichen Großbritanniens keine Stimme zu Wort gemeldet, um ein Werk zu loben, das eines der schönsten Monumente des menschlichen Geistes darstellt. Der englische Homer ist in Vergessenheit gestorben, und seine Zeitgenossen haben es der Zukunft überlassen, dem Dichter von Eden zur Unsterblichkeit zu verhelfen.“

Ein weiteres großartiges Beispiel dieser Einflüsse, dieser Bewunderungen, die in Europa Zeit und Raum überwinden, ist für mich Dante Alighieri. Die „Göttliche Komödie“ übt seit jeher eine ungeheure Faszination auf ihre europäische Leserschaft aus. Fünf Jahrhunderte nach ihrer Entstehung merkte William Blake am Rande der Übersetzung der Hölle durch Henri Boyd Folgendes an: „The grandest poetry is immoral, the grandest characters wicked, very Satan: […] Cunning and morality are not poetry but philosophy […] Poetry is to excuse vice, and show its reason and necessary purgation.“ [4], [5] Auch Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ist stark von Dante beeinflusst. Mehr als sechs Jahrhunderte nach der Entstehung der „Göttlichen Komödie“ beschreibt Proust die Bewegungen einer Seerose in einem kleinen Fluss: „(…) dass [die Seerose] an das eine Ufer nur anstieß, um gleich darauf an das eben verlassene wieder zurückzukehren und endlos diese doppelte Überfahrt vollzog (…) die zugleich auch noch an jene Unglücklichen erinnerte, durch deren unaufhörliche (…) Qual die Neugier Dantes erregt wurde, der sich die Gründe dafür noch ausführlicher von dem Gepeinigten selbst hätte erzählen lassen, wenn ihn nicht Vergil gezwungen hätte, ihm schleunigst nachzueilen, so wie es mir mit meinen Eltern erging.“ [6]

Und um nach Proust einen zeitgenössischen Autor zu zitieren: Der Schriftsteller Ismail Kadare schreibt, dass er im Alter von 13 oder 14 Jahren als Schuljunge in Albanien mit „zwei Gruppen von Gesängen [konfrontiert wurde, die] in den Lesebüchern, Zeitschriften und Zeitungen häufiger zitiert wurden als andere: einerseits jene, die Paolo und Francesca gewidmet waren, den tragischen Liebenden, die im zweiten Höllenkreis keine Ruhe finden, und andererseits jene im Zusammenhang mit Graf Ugolin aus dem neunten Kreis, der, dem Hungertod nahe, schließlich seine eigenen Kinder aß.“ Kadare zufolge ist der Einfluss Dantes auf die albanische Volkskultur derart groß, dass viele Frauen in seinem Land den Namen „Beatrice“ tragen – „wobei sie sich nach den Standesamtsregistern zu gleichen Teilen auf Christen und Muslime verteilen.“ [7]

Dante schenkte Italien die „terza rima“. Bei diesem Versschema wird die Struktur des Gedichts durch Terzinen gebildet, die sich aus je drei Verszeilen zusammensetzen; diese sind durch den jeweils vorhergehenden und nachfolgenden Reim eng miteinander verbunden, sodass nie ein neuer Reim begonnen wird, der nicht von zwei früheren Reimen eingeschlossen wäre, mit Ausnahme natürlich der ersten Terzine des jeweiligen Gesangs. Diese Versform – die den Eindruck einer schnellen, beinahe nach Luft ringenden Bewegung vermittelt, gleichzeitig jedoch eine unveränderliche Struktur beständig fortführt – war ungemein erfolgreich und wurde direkt auch von Boccaccio und Petrarca angewandt. Dante selbst hatte diese Technik aus einer anderen Sprache übernommen, nämlich dem Provenzalischen: das „Sirventes“, eine Gattung der okzitanischen Troubadourdichtung, hatte bereits die Technik der Terzinen verwendet. Hierbei handelte es sich um ein weiteres Beispiel für einen gelungenen länderübergreifenden Austausch zwischen zwei Sprachen, nämlich dem Provenzalischen und dem Italienischen.

Doch der außergewöhnliche Einfluss Dantes lässt sich vielleicht nicht nur auf seine Genialität und seine Art des Versbaus zurückführen. Es gibt noch weitere europäische Einflüsse, die die emotionale Kraft erklären, die von der „Göttlichen Komödie“ ausging. Dreißig Jahre vor der Geburt Dantes veröffentlichte der Bologneser Rhetorikprofessor Boncompagno da Signa die „Rhetorica Novissima“. Im dort enthaltenen Kapitel über das Gedächtnis nimmt er sich der klassischen „Gedächtniskunst“ [8] an – derer sich die griechischen und römischen Redner beim Einprägen ihrer Vorträge bedienten – und verwandelt diese in ein kraftvolles künstliches Gedächtnis von Tugenden und Sünden, von Paradies und Hölle. Der Historiker Frances Yates merkte an, dass man die „Göttliche Komödie“ als ein Werk interpretieren kann, das die klassische Gedächtniskunst in einer modernen Form verkörpert. Schließt man sich dieser Interpretation an, so muss man also der Auffassung sein, dass Dante indirekt vom Begründer der Gedächtniskunst, dem griechischen Dichter Simonides von Keos, beeinflusst wurde, der seinerseits lateinische Autoren wie Quintilian oder den unbekannten Verfasser der „Rhetorica ad Herennium“ und später die Kirchenväter Albertus Magnus und Thomas von Aquin sowie auch Boncompagno da Signa inspiriert hatte. [9]

Dante bewegt die europäischen Kulturen noch heute, sieben Jahrhunderte nachdem er die „Göttliche Komödie“ verfasst hat. Er bediente sich für die Gedächtniskraft seiner Dichtung indirekt bei dem Griechen Simonides, der 18 Jahrhunderte vor ihm gelebt hatte. So sehen wir, wie sich das kulturelle Gewebe Europas über 25 Jahrhunderte hinweg erstreckt.

Die Tatsache, dass man den Weg einer poetischen Metapher im Laufe der Jahrhunderte sowie über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verfolgen kann, ist ein weiteres wundervolles Phänomen der europäischen Kultur. So schrieb der eben erwähnte Simonides von Keos: „Ruhmvoll ist das Geschick der gefallenen Helden der Thermopylen, lieblich ihr Los, ihr Grab ein Altar. Klage wird zum Gedenken, Trauer zur rühmenden Rede. Weder die Zeit, die alles bezwingende, noch der Moder zermürben solches Leichengewand der Edelsten […].“

In seinen Oden verwendet Horaz just diese Metapher der Unzerstörbarkeit des Gedichts, indem er es mit einem Monument vergleicht: „Ich habe ein Monument gebaut, beständiger als Erz und höher als der königliche Sitz der Pyramiden, das nicht der gefräßige Regen […] zerstören könnte oder die unzählbare Folge der Jahre und die Flucht der Zeiten.“ Dieses Bild wird von Ovid, Boccaccio, Ronsard sowie von du Bellay in seinem „Les antiquités de Rome“ aufgegriffen, das von Spenser unter dem Titel „The Ruins of Rome“ („Die Ruinen Roms“) übersetzt wurde und das Shakespeare zu seinem bezaubernden Sonett 55 inspirierte: „Not marble, nor the gilded monuments / Of Princes, shall outlive this powerful rhyme“. [10] Dies sind wunderbare Zeilen Shakespeares über die Unsterblichkeit der geliebten Person, über die Gefühle, die sie hervorruft, und über die Unveränderlichkeit des Gedichts selbst. Die zentrale Metapher des Sonetts reicht zweitausend Jahre zurück, auf Simonides, und hat im Zeitverlauf die Grenzen der griechischen, lateinischen, italienischen, französischen und englischen Sprache überwunden. Es gibt wohl kein besseres Beispiel für die zahlreichen Fäden, aus denen sich der Stoff der europäischen Kultur zusammensetzt. Dieses Gewebe, dieses „unzerstörbare Monument“ aus Worten, das Raum und Zeit überdauert – von Simonides bis du Bellay und Shakespeare – das ist die kulturelle Einheit Europas!

Das Werk „De ontvoering van Europa“ („Wie wird man Europäer?“) des Schriftstellers Cees Nooteboom enthält seine ganz persönliche Sicht der Einheit und Vielfalt Europas: „Wenn ich Europäer bin – und ich hoffe, dass ich dies nach fast 60 Jahren redlichen Bemühens allmählich erreicht habe – so bedeutet dies sicherlich, dass der Multikulturalismus Europas meine niederländische Identität in großem Maße beeinflusst.“ Ist das nicht der Kern der europäischen Identität? Dass wir unsere nationale kulturelle Identität voll und ganz annehmen müssen und zwar nicht nur, weil sie die Grundlage unseres eigenen Intellekts und unserer Empfindsamkeit ist, sondern auch, weil die reiche kulturelle Vielfalt Europas und seine nationalen Wurzeln unseren Kontinent einzigartig machen. Und gerade aus diesem kulturellen Füllhorn schöpfen die Menschen Europas ihre europäische Identität.

Europäer zu sein bedeutet, dass ich die Literatur und Poesie meines Landes – in meinem Fall also Chateaubriand, Mallarmé, Julien Gracq, St. John Perse, Senghor – erst dann richtig begreifen kann, wenn ich auch Dante, Cervantes, Shakespeare, Goethe und Heine verstanden habe. Es bedeutet, dass wir Menschen in Europa die gleichen grundlegenden kulturellen Quellen teilen, auch wenn unsere Hintergründe sehr unterschiedlich sind. Ich lebe also in einer modernen literarischen Welt, die – direkt oder indirekt – von dem Tschechen Kafka, dem Iren Joyce und dem Franzosen Proust beeinflusst ist. Und wie der spanische Philosoph José Ortega y Gasset 1930 in seinem Werk „Der Aufstand der Massen“ schrieb: „Si hoy hiciésemos balance de nuestro contenido mental – opiniones, normas, deseos, presunciones – notaríamos que la mayor parte de todo eso no viene al francés de su Francia, ni al español de su España, sino del fondo común europeo.“ [11]

In seinen Ausführungen zur Einheit Europas spricht der französische Historiker Fernand Braudel von „unités brillantes“ („intelligenten Zusammenschlüssen“) im Gegensatz zu den „unités aléatoires“ („zufälligen Zusammenschlüssen“). Erstere decken alle Bereiche künstlerischen und intellektuellen Wirkens ab – also nicht nur Poesie, Literatur und Philosophie, sondern auch Musik, Malerei, plastische Kunst und Architektur. Nicht ohne Grund wählte der EZB-Rat bei der Gestaltung der Euro-Banknoten das Thema „Zeitalter und Stile in Europa“. Es ist faszinierend zu sehen, wie weit diese Stile über den gesamten Kontinent verbreitet sind, mit zahlreichen Gebäuden, Kirchen und Monumenten in romanischer, gotischer, barocker oder klassischer Bauweise. Diese aus ganz unterschiedlichen Teilen Europas stammenden Architekturstile verdeutlichen den kulturellen Reichtum Europas. Sie sind ein weiteres kraftvolles Zeugnis dieses einzigartigen Konzepts der Einheit in der Vielfalt, des zentralen Merkmals unseres Kontinents.

IV. Die kulturellen Aktivitäten der Europäischen Zentralbank

Die EZB greift in ihren Aktivitäten im Bereich der Kultur und Kunst den europäischen Gedanken und das Motiv einer Einheit in der Vielfalt auf. Jenseits von Geld- und Währungspolitik soll das Verständnis der Europäer untereinander gefördert und das Bewusstsein für den kulturellen Reichtum Europas sowie seine gemeinsamen kulturellen Wurzeln geschärft werden.

Unser Ziel ist es, den Bürgern im Rhein-Main-Gebiet, unseren Besuchern sowie den Mitarbeitern der EZB die kulturelle Vielfalt der EU‑Mitgliedstaaten näherzubringen und es ihnen so zu ermöglichen, ihr Wissen in Bezug auf das, was diesen gemein ist und sie verbindet, zu vertiefen. Gleichzeitig ist es der EZB ein Anliegen, die Zusammenarbeit und den Austausch innerhalb des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) auch im kulturellen Bereich zu fördern.

Die EZB konzentriert sich dabei auf zwei Aktivitätsfelder: So präsentiert sie an ihrem Sitz in Frankfurt am Main seit 1997 jedes Jahr Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst, die einen Einblick in die Kunstszene eines ausgewählten europäischen Landes geben. Bei dieser Veranstaltungsreihe stellen etwa 20 Künstler ihre Arbeiten in den Bereichen Malerei, Zeichnung, Grafik, Installation, Fotografie und Skulptur vor. Organisiert werden die Ausstellungen gemeinsam mit der nationalen Zentralbank (NZB) des jeweiligen Landes, die in der Regel auch Werke aus der eigenen Sammlung zur Verfügung stellt. Im Rahmen jeder Ausstellung erwirbt die EZB Werke für ihre Sammlung, sodass Ausstellungsaktivitäten und Sammlungsaufbau Hand in Hand gehen. Bis dato hatte die EZB 15 Länder zu Gast; ferner hat sie drei Sonderausstellungen veranstaltet, die sich ausschließlich den Sammlungen verschiedener Zentralbanken widmeten. Im Jahr 2006 wurden Werke aus der Sammlung der Oesterreichischen Nationalbank gezeigt, 2006/2007 stellte das Federal Reserve Board einen Teil seiner Sammlung zur Verfügung und im vergangenen Jahr waren anlässlich des 10. Jahrestags des ESZB Kunstwerke aus dem Besitz von 18 europäischen Zentralbanken zu sehen. Die Sammlung der EZB umfasst momentan 170 Arbeiten von 75 Künstlern und wird in ihren drei Gebäuden präsentiert. Die EZB bietet – etwa zu den Tagen der Unternehmens-Kunstsammlungen in Hessen – regelmäßig Führungen durch die Ausstellungen und die Sammlung an.

Einen anderen Schwerpunkt bilden seit 2003 die Kulturtage der EZB. Sie finden ebenfalls einmal jährlich statt, sind jeweils einem Mitgliedsland der EU gewidmet und werden in Zusammenarbeit mit der NZB des Themenlandes organisiert. Das Programm gibt stets einen Einblick in die Kulturszene des Landes und umfasst in der Regel Lesungen, Konzerte, Film-, Theater- und Tanzaufführungen sowie Vorträge und Ausstellungen. Die einzelnen Veranstaltungen werden meist außerhalb der EZB und in Kooperation mit kulturellen Einrichtungen und Institutionen in Frankfurt durchgeführt – wie etwa der Alten Oper, dem Literaturhaus, dem Deutschen Filmmuseum oder dem Mousonturm. In den vergangenen sechs Jahren konnten wir dabei bei insgesamt 198 Veranstaltungen die Darbietungen von 158 Künstlern bzw. Ensembles bewundern. Dazu gehörten vielversprechende Neuentdeckungen und Nachwuchstalente, wie etwa die junge polnische Pianistin Joanna Marcinkowska, und internationale Größen wie der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész oder der polnische Komponist Krzysztof Penderecki, die das kulturelle Erbe des 20. Jahrhunderts mitgeprägt haben.

In unseren aktuellen Aktivitäten im Bereich Kunst und Kultur finden sich viele Beispiele für die Einheit in der Vielfalt, welche die kulturelle Identität Europas ausmacht. Ich möchte nun drei Beispiele für zeitgenössische Künstler herausgreifen, die das enge Gewebe aus grenzüberschreitenden Einflüssen und Bewunderungen veranschaulichen:

Zu unserer Kunstsammlung gehören u. a. zwei Arbeiten des österreichischen Malers Hubert Scheibl, der zu den bekanntesten Vertretern der neuen Abstraktion der Neunzigerjahre zählt. In seinen Werken verweist er auf die romantische Landschaftsmalerei, die mit William Turner und Caspar David Friedrich im Europa des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. Genau wie diese Künstler versucht Scheibl, das Gefühl eines mystischen, pantheistischen Naturerlebnisses einzufangen. Er bezieht sich dabei ebenfalls auf die Idee des Erhabenen – eine Erfahrung, die zu überwältigend ist, um völlig von unseren Sinnen erfasst zu werden –, die seit dem 18. Jahrhundert immer wieder von Philosophen wie Edmund Burke, Immanuel Kant oder Jean-François Lyotard formuliert wurde. Im 20. Jahrhundert hat das Konzept des Erhabenen vor allem den europäischen und amerikanischen abstrakten Expressionismus geprägt, mit dem sich Scheibls Werke durch ihre subtil nuancierten Farbfelder und subjektive Gestik verbinden.

Die Lesung des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész im Jahr 2005 gehörte zu den Höhepunkten der Ungarn gewidmeten Kulturtage. Kertész’ Werk ist wie kaum ein anderes in die Literatur- und Geistesgeschichte vor allem des 20. Jahrhunderts eingebettet. Eine zentrale Stellung in seinem literarischen Werk nimmt der Holocaust ein, den er als unauslöschliche Zäsur der Menschheitsgeschichte begreift und in das Zentrum der europäischen Geschichte sowie des modernen Seins stellt. Prägenden Einfluss auf die Charakterisierung seiner Protagonisten haben Arthur Rimbauds und Jacques Lacans Aufzeichnungen zu zersprengten Identitäten und multiplen Persönlichkeiten. Auf Rimbauds Formel „Je est un autre“ greift Kertész sogar im Titel seiner 1997 erschienenen Erinnerungen „Ich – ein anderer“ zurück. Um seinen Lebensunterhalt während der Zeit des kommunistischen Regimes in Ungarn zu verdienen, übersetzte Kertész Schriften von Ludwig Wittgenstein, Friedrich Nietzsche, Siegmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Joseph Roth und Elias Canetti, die allesamt sein Denken nachhaltig beeinflussten. In „Galeerentagebuch“, einer 1992 erschienenen Sammlung von Beobachtungen, Aphorismen und philosophischen Exkursionen, setzt er sich schließlich unmittelbar mit großen Denkern und Dichtern des 20. Jahrhunderts auseinander. Im inneren Dialog mit ihnen versucht er, Holocaust und Modernität, Totalitarismus und Freiheit zu Ende zu denken. Zudem orientiert sich Kertész an der Trivialliteratur, wie etwa an Groschenromanen, und an seinem Vorbild Gustave Flaubert, mit dem ihn der Glaube an die Schrift als einzige Wahrheit verbindet.

Nun möchte ich mich dem Medium Film zuwenden. Passend zu dem europäischen Fokus der letztjährigen Kulturtage zeigten wir Lars von Triers 1991 entstandenen, mehrfach international ausgezeichneten Film „Europa“. Von Trier gehört zu den bekanntesten Filmemachern der Gegenwart. Zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen zählen die Literatur sowie Klassiker der europäischen und amerikanischen Filmgeschichte. Da er von den düsteren, verrätselten Stimmungen, wie sie etwa Franz Kafka und Joseph Conrad in ihren Erzählungen zeichnen, grundsätzlich beeindruckt ist, nimmt von Trier in „Europa“ sehr konkret Bezug auf die beiden Autoren: Als Ideenvorlage des Films dient Kafkas Fragment „Amerika“ (1911-14) und Conrads Roman „Heart of Darkness“ (1899). Besonders in seinen frühen Werken, zu denen „Europa“ zählt, ist der Einfluss des deutschen expressionistischen Films der Zwanzigerjahre, des italienischen Neorealismus der Vierzigerjahre und des sich etwa zeitgleich in den USA entwickelnden „Film Noir“ deutlich. So verweist von Trier in „Europa“ mit Bild- und Stilzitaten auf die bekanntesten Vertreter dieser Jahrzehnte: Fritz Lang, Alfred Hitchcock und Roberto Rossellini.

Sicherlich gäbe es im breit gefächerten Fundus unserer Kunstsammlung und der Kulturtage noch viele aufschlussreiche Verbindungslinien innerhalb der europäischen Kultur zu entdecken. Wir werden uns auch in Zukunft für den kulturellen Austausch innerhalb Europas einsetzen und sind gespannt, welche Einsichten und Erlebnisse die im Herbst dieses Jahres stattfindenden Kulturtage mit dem Gastland Rumänien mit sich bringen werden.

V. Das Streben der europäischen Kultur nach Allgemeingültigkeit

Hat man die tiefe Bedeutung und den Reichtum der kulturellen Identität Europas wirklich ganz erfasst, wenn man die Ursprünge definiert und das Ausmaß der bemerkenswerten Vielfalt seiner Kulturen abgeschätzt hat – der Kulturen, die durch gegenseitige, über Länder- und Sprachgrenzen hinaus reichende Einflüsse, Verbindungen und Bewunderung eng miteinander verflochten sind? Gibt es nicht noch einen anderen grundlegenden Charakterzug der europäischen Kultur, der sie innerhalb der Weltkulturen einzigartig macht?

Der Philosoph Jacques Derrida äußert sich in „L’autre Cap“ [12] wie folgt zu dieser Frage: „On peut aimer à se rappeler qu’on est un intellectuel européen sans vouloir l’être de part en part. Se sentir européen entre autres choses, est-ce être plus ou moins européen ? Les deux sans doute.“ [13]

Gerade weil Europa, basierend auf einer echten und tiefgreifenden Anerkennung seiner kulturellen Vielfalt, nach und nach aufgebaut wurde, strebt es die Allgemeingültigkeit an. Die kulturelle Einheit Europas bedeutet nicht Abgeschlossenheit, ein ausschließlich auf sich selbst gerichteter Blick, Abkapselung in einer kulturellen Festung. Die Bewunderung und die stete Neugier gegenüber anderen Kulturen dieser Welt ist fester Bestandteil der europäischen Kultur.

Im selben Text schreibt Derrida ferner: „Comment assumer une responsabilité contradictoire qui nous inscrit dans une sorte de double bind : se faire les gardiens d’une idée de l’Europe, d’une différence de l’Europe qui consiste précisément à ne pas se fermer sur sa propre identité et à s’avancer exemplairement vers ce qui n’est pas elle, vers l’autre Cap […].“ [14]

Dieses tiefe Streben Europas nach Allgemeingültigkeit wird von Husserl in seinem Wiener Vortrag von 1935, den ich eingangs erwähnt habe, besonders ambitioniert zum Ausdruck gebracht. Hierin führt er weiter aus: „Es sind solche [Ideale] für die einzelnen Menschen in ihren Nationen, solche für die Nationen selbst. Aber schließlich sind es auch unendliche Ideale für die sich ausbreitende Synthese der Nationen, in welcher jede dieser Nationen gerade dadurch, dass sie ihre eigene ideale Aufgabe im Geiste der Unendlichkeit anstrebt, ihr Bestes den mitvereinten Nationen schenkt.“

Ist es nicht bemerkenswert, dass die UNESCO, wenn sie auf internationaler Ebene von kultureller Vielfalt spricht, fast dieselbe Formulierung verwendet, die auch die Europäische Union zur Förderung ihrer kulturellen Vielfalt gebraucht?

So lautet Artikel 151 des Vertrags von Amsterdam, der den Artikel 128 des Vertrags von Maastricht wieder aufgreift: „Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“

Im Vergleich hierzu die Formulierung in den Erwägungsgründen des Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen der UNESCO: „[…] In der Erkenntnis, dass die kulturelle Vielfalt ein gemeinsames Erbe der Menschheit darstellt und zum Nutzen aller geachtet und erhalten werden soll; […]“.

Doch wie spiegelt sich diese Vielfalt und Allgemeingültigkeit, welche die Grundpfeiler der europäischen Einheit bilden, nun in der Europäischen Zentralbank wider? Die Vielfalt ist bei uns präsent, weil – wie bereits erwähnt – in der EZB 27 Nationalitäten vertreten sind und zusammen eine kohärente Mannschaft bilden, die beträchtlich zum gemeinsamen Erfolg beiträgt. Der EZB-Rat selbst ist ein hervorragendes Beispiel für Vielfalt und Einheit. Zusammen erfüllen wir unsere Aufgabe, das Team der Zentralbanken anzuführen, das sich in Europa mit der Geldpolitik befasst und zu dem im Euro-Währungsgebiet neben der Europäischen Zentralbank 16 nationale Zentralbanken mit jeweils eigener Kultur, Sprache und Geschichte zählen. Und zusammen mit den 27 nationalen Zentralbanken bilden wir das Europäische System der Zentralbanken. Wir schätzen seine reichhaltige Vielfalt, welche integraler Bestandteil unserer eigenen Identität ist.

Auch wir streben Allgemeingültigkeit an. Wir sind weltoffen und pflegen enge Beziehungen zu den Institutionen anderer Kontinente. Wir zielen darauf ab, in den internationalen Finanzinstitutionen und den internationalen Gruppen, denen wir angehören, eine aktive Rolle zu spielen und befürworten stets multilaterale Lösungsansätze. Besonderen Wert legen wir auf unseren Dialog mit den Zentralbanken anderer Regionen. Dies gilt insbesondere für die regelmäßigen Zusammenkünfte zwischen dem Eurosystem und den Notenbanken Asiens, Lateinamerikas und des Mittelmeerraums.

Die Einheit ist uns schließlich gegenwärtig, weil wir die eminente Verantwortung zur Wahrung der einheitlichen europäischen Währung gemäß dem EG-Vertrag haben; weil die Wirtschafts- und Währungsunion ein großartiges Unterfangen ist, das für die Europäer die Grundlage ihres gemeinsamen Wohlstands und ihrer gemeinsamen Stabilität darstellt; weil die einheitliche Währung selbst ein Symbol der Einheit Europas ist. Unsere Erfahrung mit einer Wirtschafts- und Währungsunion, die auf dem freien Willen der Mitgliedstaaten beruht, ist beispielhaft in der heutigen globalisierten Welt, die rasch zusammenwächst. Aus diesem Grund unterhalten wir enge Kontakte zu den Institutionen außerhalb Europas, welche die EZB und das Eurosystem genau beobachten und auf die einzigartigen Erfahrungen Europas zurückgreifen wollen.

Schließen möchte ich mit den Worten des Philosophen und Schriftstellers Ernest Renan, mit seiner Definition dessen, was die Identität einer Nation ausmacht [15]: „In der Vergangenheit ein gemeinschaftliches Erbe von Ruhm und von Reue, in der Zukunft ein gleiches Programm verwirklichen […]“. Ruhm und Reue in der Vergangenheit gibt es in Europa im Überfluss, ebenso wie eine tiefgreifende kulturelle Einheit in der Vielfalt. Die einheitliche Währung ist ein Hauptbestandteil des „zu verwirklichenden gleichen Programms“. Europa kann darauf zählen, dass wir mit dem Euro weiterhin einen einzigartigen und unersetzlichen Anker für Stabilität und Vertrauen bieten. Im derzeitigen sehr schwierigen Umfeld ist dies wichtiger denn je. Europa kann darauf vertrauen, dass wir diesen Anker bewahren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

  1. [1] Deutsche Übersetzung: „Überall dort, wo die Namen von Cäsar, von Gaius, von Traian und Virgil, überall dort, wo die Namen von Moses und des Hl. Paulus, überall dort, wo die Namen von Aristoteles, von Platon oder Euklid Bedeutung und Autorität besitzen, da ist Europa.“

  2. [2] Deutsche Übersetzung: „Der europäische Mensch ist weder durch die Rasse noch durch die Sprache oder durch die Sitten definiert, sondern durch sein Bestreben und die Ausschweifung des Willens […].“

  3. [3] Gespräch von Goethe und Eckermann (2. Januar 1824).

  4. [4] William Blake: From the annotations to Henry Boyd’s A Translation of the Inferno of Dante Alighieri. Oxford Classic’s. Selected Poetry, S. 138

  5. [5] Deutsche Übersetzung: „Die größte Dichtung ist unmoralisch, die größten Charaktere sind böse, sehr satanisch: […] Klugheit und Moralität sind nicht Poesie, sondern Philosophie […] Dichtung soll das Laster entschuldigen und seine Ursache sowie notwendige Reinigung zeigen.“

  6. [6] Marcel Proust: Unterwegs zu Swann. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994, S. 247.

  7. [7] Ismail Kadare: Dante l’incontournable, Fayard 2006 (Aus dem Albanischen ins Französische übersetzt von Tedi Papavrami).

  8. [8] Frances Yates, The Art of Memory, Routledge & Kegan, 1966.

  9. [9] Albertus Magnus: Opera omnia. Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Boncompagno da Signa: Rhetorica Novissima. Zitiert nach Frances Yates, The Art of Memory.

  10. [10] Deutsche Übersetzung: „Kein goldnes Ehrenmal, kein Marmorstein / Der Fürsten überlebt dies mächt’ge Lied.“

  11. [11] Deutsche Übersetzung: „Würden wir heute eine Bestandsaufnahme unseres geistigen Besitzes – unserer Ansichten, Normen, Wünsche und Annahmen – machen, so dürften wir feststellen, dass der Großteil nicht von dem Franzosen aus Frankreich oder dem Spanier aus Spanien stammt, sondern auf einen gemeinsamen europäischen Hintergrund zurückzuführen ist.“

  12. [12] Jacques Derrida, „L’autre Cap“, Liber, Revue européenne des livres, 1990. Raison d’Agir Editions.

  13. [13] Deutsche Übersetzung: „Es kommt durchaus vor, dass man sich gerne vergegenwärtigt, dass man ein europäischer Intellektueller ist, ohne dass man dies ganz und gar sein möchte. Ist man nun mehr oder weniger Europäer, wenn man sich unter anderem als Europäer fühlt? Vermutlich trifft beides zu.“

  14. [14] Deutsche Übersetzung: „Wie können wir eine widersprüchliche Verantwortung übernehmen, die uns doppelt bindet, indem wir uns zu den Hütern einer Vision von Europa machen, eines Unterscheidungsmerkmals von Europa, das genau darin besteht, sich nicht auf sich selbst zurückzuziehen und sich beispielhaft auf das zuzubewegen, das anders ist, auf den anderen Kurs […].“

  15. [15] „Dans le passé un héritage de gloire et de regrets à partager; dans l’avenir un même programme à réaliser […]“, Ernest Renan: „Qu’est ce qu’une nation?“, 1882.

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