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Zur Zukunft des Euro

Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der EZB,
Eingangsreferat zur Diskussion „Die aktuelle Problematik in der Euro-Zone“,
veranstaltet von:
Österreichische Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen,
Wien, Freitag, den 2 Juli 2010

Meine Damen und Herren,

in der aktuellen wirtschaftspolitischen Debatte sorgt man sich um die Zukunft des Euro. Lassen Sie mich gleich vorwegnehmen: Um die Zukunft des Euros mache ich mir keine Sorgen. Der Euro ist und bleibt unsere gemeinsame stabile Währung. Die Regierungen der Mitgliedsstaaten müssen die wirtschaftlichen Realitäten erkennen und den institutionellen Rahmen des Eurogebiets grundlegend erneuern und stärken.

Mit diesem Prozess befinden wir uns am Anfang. Der Erfolg der politischen Bemühungen wird sich daran messen lassen, ob es gelingt, solide Staatsfinanzen und einen nachhaltigen Abbau der wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Eurogebiet dauerhaft zu sichern.

Wir haben es nämlich nicht, wie viele Kommentatoren suggerieren, mit einer Krise des Euros zu tun.

Die Krise resultiert vielmehr aus der Krise der Staatsfinanzen und unzureichenden wirtschaftlichen Reformen im Eurogebiet. Die hohe Staatsverschuldung wiederum ist übrigens nicht etwa nur ein Problem im Eurogebiet, sondern in nahezu ausnahmslos allen Industrieländern. Beispielsweise liegt der Anteil der Neuverschuldung an der heimischen Wirtschaftsleistung in den USA nach Schätzungen der EU Kommission für die Jahre 2009-2011 im zweistelligen Bereich. Für das Eurogebiet hingegen schätzt die Kommission die Neuverschuldung auf jeweils 6.6% und 6.1% für 2010 und 2011.

Der momentane Fokus der Diskussion verkennt, dass der Euro bis heute neben seinem stabilitätspolitischen auch ein wirtschaftlicher Erfolg war. Die Einführung des Euros war ein notwendiges Komplement des gemeinsamen Binnenmarktes. Der Euro hat sich als Motor wirtschaftlicher und finanzieller Integration erwiesen.

Der stabilitätspolitische Erfolg des Euros steht außer Frage. Die Inflationsrate bewegt sich, wie schon zuvor im Durchschnitt der vergangenen 11 ½ Jahre, im Einklang mit Preisstabilität. Damit war die Inflationsrate niedriger als in Deutschland in den Jahrzehnten vor der Währungsunion – vom Abstand zu den historischen Inflationsraten in manchen anderen europäischen Ländern ganz zu schweigen.

Die Wirtschaftsentwicklung im Eurogebiet stand in den vergangenen elf Jahren der in den USA kaum nach: auf beiden Seiten des Atlantiks hat das Pro-Kopfeinkommen annähernd gleiche Wachstumsraten verzeichnet, wenn auch von unterschiedlichen Faktoren getrieben: in den USA von Produktivitätsgewinnen, im Eurogebiet durch Beschäftigungszuwächse.

In turbulenten Zeiten hat sich der Euro als Schutzschild für Länder bewährt, die unter vergleichbaren Bedingungen in eine tiefe Währungskrise geraten wären. Vielleicht zu sehr. Denn im Gegensatz zu früher wurden diese Ungleichgewichte nicht durch Renditeanstiege an den Finanzmärkten abgemildert, bzw. sanktioniert. Im Gegenteil. Trotz massiver Ungleichgewichte und großer Unterschiede privater und öffentlicher Verschuldung in den Ländern des Eurogebiets hatten sich die Renditeabstände der jeweiligen Staatsanleihen im Vorfeld der Krise gänzlich abgebaut. Diese Entwicklung verweist entweder auf eine krasse Fehleinschätzung wirtschaftlicher Risiken von Seiten der Marktteilnehmer – einschließlich der Rating Agenturen – oder darauf, dass kein Investor die No-Bail out Klausel je ernst genommen hat. Wir müssen uns also heute auch kritisch fragen, ob die Schutzfunktion des Euro nicht mit dazu beigetragen hat, dass sich in einigen Ländern in völlig ungekanntem Ausmaß Ungleichgewichte erst aufbauen konnten.

Welche Ursachen liegen hinter den dramatischen Fehlentwicklungen der vergangen Jahre?

Der Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 hat viele überrascht. Die Krise der Staatsfinanzen in der wir uns jetzt befinden, sollte hingegen niemanden wirklich überrascht haben. Ich erspare Ihnen an dieser Stelle eine Aufzählung der von uns über die Jahre ausgesprochenen und von den Regierungen und Behörden stets in den Wind geschlagenen Warnungen. Für mich war im November 2008 bereits klar, dass das Risiko einer Krise der öffentlichen Finanzen in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften sehr groß war.

Der für die Sicherung eines dauerhaften wirtschaftlichen Erfolgs der Währungsunion notwendige institutionelle Rahmen zur Koordinierung von Wirtschafts- und Fiskalpolitik hat versagt. Im Ergebnis haben sich manche Länder erst sehr spät an die Bedingungen der Währungsunion angepaßt – andere überhaupt nicht.

Auf der fiskalpolitischen Seite wurde der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht nur nicht umgesetzt, sondern die Regeln wurden weiter geschwächt. Potentielle Budgetsünder hatten natürlich keinen Anreiz, gegen andere Budgetsünder wegen Regelverstößen Sanktionen zu verhängen.

Die Entscheidungen über Anpassungsmaßnahmen und mögliche Sanktionen hingen zu stark von kurzsichtigem politischem und wahltaktischem Kalkül ab. Die Konsolidierungsprogramme beruhten regelmäßig auf zu optimistischen Wachstumsannahmen. In Zeiten robusten Wirtschaftwachstums hatte man es versäumt die Schulden abzubauen. Es fehlten verlässliche Statistiken. In 11 Jahren ist es mangels politischem Willen in keinem einzigen Land des Eurogebiets gelungen dringende Reformen einzuleiten, die öffentlichen Haushalte gegen die Folgen des absehbaren Anstiegs der Pensionsverpflichtungen aufgrund der rasch alternden Bevölkerung abzusichern.

Im Jahr 2005 wurden alle diese Versäumnisse schließlich auch noch gesetzlich besiegelt, indem die europäischen Regierungen – übrigens auf deutsche Initiative hin – die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes zur Beliebigkeit aufweichten.

Wir, das heißt die Zentralbanken im Eurosystem, haben damals alle diese folgenschweren Fehlentscheidung heftig kritisiert. Die dramatischen wirtschaftlichen und finanziellen Folgen dieser Entscheidungen haben unsere schlimmsten Befürchtungen nicht nur betätigt sondern sogar übertroffen.

Die ursprünglich vom Platzen der Kredit- und Immobilienpreisblase in den USA verursachte Krise hat inzwischen die fragilen Staatshaushalte mit voller Wucht getroffen. Die Wirkung der automatischen Stabilisatoren im Konjunkturabschwung, die staatliche Unterstützung für die Banken und schließlich staatliche Konjunkturprogramme haben die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen vollends unterminiert. In unvorstellbarem Ausmaß müssen nun in Zusammenarbeit mit dem IWF Finanzmittel bereitgestellt werden um Ansteckungseffekte und einen gänzlichen Zusammenbruch des Vertrauens an den Finanzmärkten zu verhindern.

Dabei befinden sich die Regierungen des Eurogebiets erst am Beginn eines Prozesses Maßnahmen einzuleiten, um das Vertrauen der Finanzmärkte wiederzugewinnen. Für das Eurogebiet insgesamt erwartet die Kommission dass der Schuldenstand von 78.7% der Wirtschaftsleistung auf immer noch 88.5% im Jahr 2011 ansteigen wird. Dieser Trend ist nicht haltbar. Wir sehen täglich, welche fundamentale Bedrohung diese Verschuldung nicht nur für Wachstum, Beschäftigung und wirtschaftliche Stabilität darstellt, sondern auch für politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Was ist zu tun?

Die plötzliche Neubewertung der Lage durch die Finanzmärkte hat die Regierungen unter erheblichen Handlungsdruck gebracht, Maßnahmen zur Senkung der Neuverschuldung zu ergreifen. Ich sehe aber das Risiko, dass diese leicht wieder schwinden werden, sobald eine gewisse Reduktion der Neuverschuldung an den Finanzmärkten für Beruhigung gesorgt hat. Damit würde sich das unhaltbar hohe Schuldenniveau aber weiter verfestigen.

Wir müssen deshalb dringend den institutionellen Rahmen zur Koordinierung längst überfälliger Strukturreformen und zur Sicherung der Staatsfinanzen grundlegend überarbeiten und stärken. Statt weiter abzuleugnen, dass die Mitgliedschaft in einer Währungsunion auch die Autonomie der nationalen Wirtschafts- und Fiskalpolitik einschränkt, müssen sich die Euromitgliedsstaaten endlich auf den Boden der wirtschaftlichen Tatsachen stellen und gestärkten europäischen Regeln zur Sanierung ihrer Haushalte folgen.

Reformmaßnahmen und Konsolidierungsschritte können nur mit weit reichenden institutionellen Reformen erreicht werden. Sie erfordern eine Entpolitisierung der Überwachung, stärkere Regelbindung, einen stärkeren Automatismus von Sanktionen bei Regelverstößen, und eine stringente Koordinierung der Wirtschaftspolitik.

Wie muß der institutionelle Rahmen geändert werden?

Das Ziel einer Entpolitisierung der Überwachung lässt sich am besten durch Schaffung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde erreichen.

Die Budgetregeln müssen gestärkt werden. Dies lässt sich erreichen, indem man sie auch auf nationaler Ebene gesetzlich umsetzt. Wir brauchen einen stärkeren Automatismus von Sanktionen bei Regelverstößen. Wir müssen das Prinzip der Beweislastumkehr einführen, was heißt, dass Sanktionen bei Regelverstößen automatisch eintreten, es sei denn beispielsweise der Rat entscheidet explizit und plausibel begründet dagegen.

Eine stärkere Regelbindung erfordert auch eine engere Bindung der Neuverschuldungsgrenze an den Schuldenstand. Die Wirtschaftsleistung des Eurogebietes hat im Jahresdurchschnitt der letzten 11 Jahre jährliche Wachstumsraten von 3% weit verfehlt. Es fehlte der politische Wille, durch Strukturreformen das Wachstums- und Beschäftigungspotential zu erhöhen. Was damit leider auch auf der Hand liegt ist, dass selbst bei Einhaltung einer Grenze für die Neuverschuldung von 3% die Schulden real immer weiter wachsen würden. Der momentane Schuldenstand läßt sich bei Einhaltung der Neuverschuldungsgrenze von 3% nicht abbauen. Wir dürften deshalb zusätzliche Verschuldung im Grunde überhaupt nicht mehr zulassen, sobald das 60% Schuldenkriterium nicht mehr eingehalten wird!

Sanktionen müssen eine glaubwürdige Option sein. Deshalb müssen sie lange bevor ein Land in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät greifen und deshalb sollten sich auch nicht rein finanzieller Natur sein. Sanktionen müssen bereits dann, wenn die Minimalanforderungen zur Erreichung der mittelfristigen Ziele nicht erreicht werden, einsetzen. Sie müssen graduell verschärft werden, je länger Regelverstöße andauern und je schwerer sie sind.

Als Sanktionen müssen wir ein weiteres Spektrum von Maßnahmen in Erwägung ziehen. Im Bereich finanzieller Sanktionen denke ich beispielsweise an die Streichung von EU Strukturmitteln und Subventionen. Im Bereich nicht-finanzieller Sanktionen könnte man an den Entzug von Stimmrechten im Europäischen Rat denken.

Aber auch auf strukturpolitischer Seite benötigen wir einen besseren Rahmen zur Überwachung und Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder und zum Abbau von Ungleichgewichten. Hierfür muss die Wettbewerbsfähigkeit, z.B. auf Basis der Lohnstückkostenentwicklung, überwacht und unter Aufsicht gestellt werden. In diesem Kontext muss auch der Verschuldungsgrad der privaten Haushalte und die Vermögenspreisentwicklung analysiert werden.

Nach Maßgabe dieser Analyse müssen die Länder in verschiedene Risikogruppen ihrer wirtschaftlichen Anfälligkeit eingeordnet werden. Je höher das Risiko, desto bindender die Empfehlungen zum Abbau der Ungleichgewichte, wie auch die Überwachung der Umsetzung notwendiger Maßnahmen – wiederum bis hin zu möglichen Sanktionen.

Als eine mögliche Innovation des institutionellen Rahmens wurde auch die Schaffung einer neuen Institution für das Krisenmanagement vorgeschlagen. Sind die institutionellen Reformen im fiskalpolitischen Bereich und dem der Koordinierung der Wirtschaftspolitik erfolgreich, so muss eine solche neue Institution eigentlich nie einspringen und ist redundant. Dass in der momentanen Situation die europäischen Regierungen zeitlich begrenzt den Europäischen Finanzstabilisierungsfonds eingerichtet haben, ist lediglich Konsequenz der institutionellen Schwächen zur Umsetzung von fiskal- und strukturpolitischen Vorgaben in der Vergangenheit.

Sollte eine solche Institution permanent eingerichtet werden, so müssen wir darauf achten, hierdurch keine Fehlanreize zu schaffen, die Anlass zu Fehlverhalten der Regierungen geben könnten. In jedem Fall sollten finanzielle Mittel für Mitgliedsländer, wie auch im Fall des Europäischen Finanzstabilisierungsfonds, nur als ultima ratio eingesetzt werden, unter strengen Auflagen zur Umsetzung struktur- und fiskalpolitischer Korrekturen, zu Zinsen über dem Marktniveau, unter Einbindung des Privatsektors, und dem Stabilisierungsfonds als bevorrechtigtem Gläubiger.

Die Mittelausstattung einer solchen Institution sollte sich unter anderem auf die finanziellen Sanktionszahlungen stützen, welche Länder aufgrund von Regelverstößen abzuführen haben.

Was wird aus dem Euro?

Es ist mir, um zum Schluss auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, wichtig, noch einmal zu wiederholen, dass wir es nicht mit einer Eurokrise zu tun haben. Die EZB wird, wie in den bisherigen 11½ Jahren auch, gemäß ihrem Mandat, für Preisstabilität sorgen. Aber um den wirtschaftlichen Erfolg und den politischen Zusammenhalt der Währungsunion zu sichern, benötigen wir eine tief greifende Reform des institutionellen Rahmens, um die Staatshaushalte nachhaltig zu sichern und wirtschaftliche Ungleichgewichte beseitigen.

Die Schulden werden nicht weniger indem wir sie von einem Sektor der Wirtschaft auf andere Sektoren oder Institutionen verschieben. Die Zentralbanken schließe ich hier übrigens mit ein. Nicht zuletzt um Fehlanreizen für Regierungen und Banken durch unsere Stützungsmaßnahmen zu begegnen, haben wir begonnen, diese graduell zurückzunehmen.

Die Industrienationen spielen seit nunmehr drei Jahren auf Zeit. Immer noch höhere Schulden zu machen ist keine Alternative. Sie sind auch keine Option mehr. Die Finanzmärkte werden das nicht mehr tolerieren. Die einzigen verbleibenden Alternativen sind Schuldenabbau, sowie rasche und grundlegende Restrukturierung des Wirtschafts- und Finanzsystems, um Wachstumsimpulse zu setzen.

Niemand in Europa redet einer Deflationspolitik das Wort. Einige Mitgliedsstaaten des Eurogebiets haben durch Exzesse während des gesamten letzten Jahrzehnts ihre Wettbewerbsfähigkeit verspielt. Zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit und zum Abbau der Ungleichgewichte müssen in diesen Ländern Preise und Löhne gegenüber dem Euroraum insgesamt sinken. So sieht nun mal der Anpassungsprozess in der Währungsunion aus. Eine Deflationsgefahr für das Eurogebiet insgesamt ergibt sich damit natürlich nicht. Hierfür steht die EZB ein.

Diese Anpassungsmaßnahmen sind schmerzhaft aber notwendig, weil sie die Wachstumschancen in Verbindung mit Strukturreformen verbessern. Ohne Strukturreformen zur Stärkung von Beschäftigung und Wachstum würden selbst die redlichsten Sparbemühungen ins Leere laufen – wirtschaftlich und politisch. Strukturreformen und Konsolidierung der Staatshaushalte sind im Übrigen nicht alleine eine Aufgabe der Defizitländer. Natürlich ist dort der unmittelbare Handlungsdruck im Augenblick am höchsten. Aber auch die Überschussländer müssen Maßnahmen ergreifen, die heimische Wirtschaft zu stärken, indem sie Anreize für Investitionen und Beschäftigung schaffen. In keinem einzigen Land der Währungsunion kann die Haushaltssituation als dauerhaft solide bezeichnet werden.

Wir befinden uns in der tiefsten Krise in Europa seit dem zweiten Weltkrieg. Aber die europäische Integration hat nach Rückschlägen und Krisen immer wieder neue Impulse bekommen, sonst hätten wir heute keinen gemeinsamen Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währung. Krisen sind definitionsgemäß Entscheidungspunkte. Die europäische Politik hat erkannt, dass es höchste Zeit zum Handeln ist. Ich bin deshalb sehr zuversichtlich, dass Europa insgesamt mit schärferen Regeln und reformierten institutionellen Strukturen gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird.

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